Moderation: | Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider, Dr. Barbara Wiermann Hochschule für Musik und Theater Leipzig - Leipzig, Deutschland |
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Themenkreis: | 07 - Innovative Formen der Bewahrung des kulturellen Erbes in Bibliotheken | |
Zeit: | Donnerstag 04. Juni 2009 16:00 - 18:00 | |
Raum: | Panoramasaal | |
Die Quellenforschung nimmt in der Musikwissenschaft bis heute eine zentrale Rolle ein. Dabei ist die Beschäftigung mit Quellenmaterial nicht nur durch ein rein wissenschaftliches Interesse geprägt, sondern wird auch durch aufführungshistorische Fragen mit musikpraktischer Relevanz geleitet. Vor diesem Hintergrund erstaunt es, dass im Rahmen elektronischer Erschließungs- und insbesondere Digitalisierungsprojekte musikhistorische Quellenbestände deutscher Bibliotheken bisher wenig Beachtung fanden. Ebenso kommen in der Diskussion darum, welche neuen Erschließungspotentiale das digitale Zeitalter für den Altbestand eröffnet, Musikdrucke, Musikhandschriften sowie andere musikspezifische Materialien kaum zur Sprache.
In der Veranstaltung „Digitalisierung musikgeschichtlicher Quellen – Projekte und Perspektiven“ wird in einem einleitenden Vortrag dargestellt, welches Entwicklungspotential Vertreter der Wissenschaft in der digitalen Bereitstellung musikgeschichtlich relevanter Quellenmaterialien sehen, welche Anforderungen sie an die Erschließung und Präsentation dieser Bestände haben und welche Chancen sie für die Forschung erwarten.
Im Folgenden sollen vier in unterschiedlichen Stadien befindliche Projekte vorgestellt werden, die für ihre Umsetzung stark voneinander abweichende Wege gewählt haben. Dabei werden zum Beispiel Vorgehensweise und Qualitätsanforderungen bei der Digitalisierung, technische Lösungen für Metadatenerfassung und Online-Präsentation, Möglichkeiten und Standards der Erschließung sowie Schnittstellen zu musikspezifischen und allgemeinen überregionalen Nachweisinstrumenten diskutiert.
Veranstaltet von der AIBM Deutschland.
Prof. Dr. Joachim Veit
Musikwissenschaftliches Seminar Detmold/Paderborn - Detmold, Deutschland
Mit der für das Fach vermutlich charakteristischen Verzögerung hat das digitale Zeitalter auch in der Musikwissenschaft Einzug gehalten. Speziell im Bereich der Musikphilologie entstehen damit rasch neue Anforderungen im Umgang mit dem in der Regel von Bibliotheken zur Verfügung gestellten Quellenmaterial. Dies betrifft einerseits Fragen des Zugangs, der Rechte-Einräumung, der Qualität der Digitalisate, der benutzten Standards und der notwendigen Metadaten, andererseits aber auch neue Formen des technischen Zugriffs auf diese Daten (lokale Verfügbarkeit oder direkte Nutzung auf Bibliotheksserver) mit unmittelbaren Folgen auch für Fragen der „Publikation“ (im traditionellen oder neuen Sinne) und der Langzeitverfügbarkeit der erstellten Daten. Aber selbst grundlegendste Sachverhalte sind zu klären: Endet die Digitalisierung einer Quelle mit der letzten gescannten Seite oder ist über das dem Auge sichtbare Äußere der Quelle hinaus eine tiefergehende Erschließung und Dokumentation im Hinblick auf alle Faktoren der Materialität zu leisten und von wem? Komplexer werden diese Fragen, wenn Forschungsergebnisse (eventuell sogar solche von – auch technisch – unterschiedlicher Provenienz) mit den von Bibliotheken vorgehaltenen Digitalisaten virtuell verknüpft werden sollen, die "Publikation" sich also "on the fly" aus Datenbeständen der Bibliotheken und Forschungsinstitute zusammensetzt und nur als gemeinsamen Produkt angeboten werden kann. Das augenblicklich noch unüberschaubare Ausmaß der mit diesem Thema verbundenen Probleme legt dringend nahe, dass Bibliotheken und Fachwissenschaften in Zukunft eine sehr viel engere Gemeinschaft eingehen und nach gemeinsamen Lösungen zu suchen.
Dr. Michael Oehler
Universität Wien - Wien, Österreich
Notavista ist ein Online-Publikationssystem für digitalisierte Handschriften, welches vor allem in Hinblick auf eine wissenschaftlich fundierte Informationsarchitektur sowie auf eine hohe Benutzerfreundlichkeit entwickelt wurde. Es fand in den letzten Jahren besonders erfolgreich bei verschiedenen Online-Publikationen von digitalisierten Manuskripten seinen Einsatz, wie z.B. unter www.schubert-online.at (Schubert Notenmanuskripte und Briefe), unter www.schoenberg.at/werkdatenbank/ (Arnold Schönberg Werk- und Quellenverzeichnis), unter http://www.oper-um-1800.uni-koeln.de/ (Opern zwischen 1770 und 1830), sowie in nicht-öffentlichen Projekten, wie der Datenbank der Gluck-Gesamtausgabe oder der Verwaltung der Bestände des Wiener Phonogrammarchivs.
Sei es die schnelle und übersichtliche Verwaltung von extrem großen Datenmengen, die frei kombinierbaren und teilweise auch neuartigen Such- und Sortierungsmöglichkeiten (wie z.B. nach Wasserzeichen und Jahreszahlen, nach Instrumentation oder Papierarten), sei es die Möglichkeit, physikalisch getrennte Manuskriptteile virtuell wieder zusammenzufügen oder seien es die im System enthaltenen Grafikmöglichkeiten, die weit über die Werkzeuge der gängigen Publikationssysteme hinausgehen: das erfolgreich erreichte Ziel von Notavista war es stets, den in vielen vorausgegangenen Interviews erhobenen Bedürfnissen von Archivaren, Musikwissenschaftlern, Dirigenten und Musikern gerecht zu werden. Die in den letzten Jahren entwickelten Einsatzmöglichkeiten von Notavista werden im Rahmen des Vortrags am Beispiel verschiedener Digitalisierungsprojekte demonstriert.
Dr. Martina Rebmann
Staatsbibliothek zu Berlin - Berlin, Deutschland
Die Handschriften Johann Sebastian Bachs zogen von jeher ein besonderes musikwissenschaftliches Interesse auf sich, das bis heute ungebrochen ist. So können sowohl die Alte als auch die Neue Bach-Ausgabe (erschienen 1851-1899 bzw. 1954-2007) in ihrer jeweiligen Zeit als Meilensteine der Musikphilologie gelten. Bis heute liefert die Beschäftigung mit den Originalquellen zu Werken Johann Sebastian Bachs immer wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Im Rahmen des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Bach Digital“ sollen Autographe und Originalquellen zum Oeuvre Bachs aus den Beständen der Staatsbibliothek zu Berlin, des Bach-Archivs Leipzig und der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden digitalisiert und online präsentiert werden. Als zentraler Einstieg für „Bach Digital“ wird der seit dem Jahr 1999 aufgebaute und zeitweilig mit DFG-Mitteln finanzierte Göttinger Bach-Katalog ausgebaut, in dem nicht nur die Primärquellen, sondern darüber hinaus auch alle nachweisbaren Abschriften zu Werken Bachs aus dem 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tiefenerschlossen sind. „Bach Digital“ setzt damit auf ein zentrales Instrumentarium der Bach-Forschung auf. Im Vortrag wird unter anderem die notwendige Weiterentwicklung des Göttinger Bach-Katalogs zur Präsentationsplattform von „Bach Digital“ thematisiert.
Dr. Karl Wilhelm Geck
SLUB Dresden - Dresden, Deutschland
Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) bearbeitet seit 2008 das DFG-Projekt „Die Instrumentalmusik der Dresdner Hofkapelle zur Zeit der sächsisch-polnischen Union. Erschließung, Digitalisierung und Internetpräsentation“. Ziel ist die inhaltliche Aufbereitung des instrumentalen Repertoires der legendären Dresdner Hofkapelle, das nach dem Siebenjährigen Krieg nicht mehr genutzt worden war. Dazu gehören autographe oder abschriftlich überlieferte Kompositionen von Antonio Vivaldi, Georg Philipp Telemann oder Johann Friedrich Fasch, zum Teil aus dem Nachlass des Dresdner Konzertmeisters Johann Georg Pisendel. Die 1700 Manuskripte der SLUB, die bei Projektbeginn zu 90 % lediglich konventionell katalogisiert waren, werden gemäß RISM-Richtlinien elektronisch erschlossen. Dabei soll versucht werden, möglichst viele der zahlreichen anonymen Komponisten zu identifizieren und mittels Schreiber- und Papieruntersuchungen Aufschlüsse zur Datierung und ursprünglichen Provenienz der Handschriften zu erlangen. Die Titelaufnahmen in der RISM-A/II-Datenbank bilden zugleich das Metadatenreservoir für die Digitale Kollektion, die hochauflösende Farbscans von allen 48.000 Manuskriptseiten bieten wird (Datentransfer per Kallisto-XML-Schnittstelle). Im Vortrag werden der Projektstand und die projektbezogene Weiterentwicklung des Dresdner Produktions- und Präsentationssystems für Digitalisate (Goobi) vorgestellt.
Dr. Barbara Wiermann
Hochschule für Musik und Theater Leipzig - Leipzig, Deutschland
Konzertprogramme führen in Bibliotheken bis heute ein Schattendasein. Sie sind meist nur lückenhaft überliefert, weit gestreut und schlecht erschlossen. Für die Wissenschaft sind sie damit nur schwer zugänglich und in der Auswertung sehr aufwendig. Der hohe Wert dieser Alltagsdokumente des Musiklebens für die musikwissenschaftliche Forschung ist jedoch unbestritten.
Aufgrund zahlreicher Faktoren entwickelte sich Leipzig im 19. Jahrhundert zu einer europaweit beachteten Musikstadt. Das reiche Musikleben ist in einmaliger Weise in Konzertprogrammen dokumentiert, die heute über Bibliotheken, Museen und andere Kultureinrichtungen verteilt sind. In einem von der Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater Leipzig initiierten Projekt sollen ca. 15.000 Leipziger Konzertprogramme aus dem 18. bis frühen 20. Jahrhundert, die sich derzeit in sechs verschiedenen Institutionen befinden, virtuell zusammengeführt und gemeinsam erschlossen werden. Damit soll ein zentraler Quellenbestand, der die Vielschichtigkeit und Dynamik der Entwicklung der Musikstadt Leipzig dokumentiert, für die Wissenschaft zugänglich gemacht werden.
Der Vortrag widmet sich sowohl den Rahmenbedingungen als auch konkreten Fragen der Umsetzung des Projekts. Thematisiert werden die gewählten Kooperationsstrukturen. Einen Fragenkomlex bilden die Kriterien der Erschließung von Konzertprogrammen, für die bisher Standards fehlen. Ein weiterer Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf technischen Anforderungen und Lösungsmöglichkeiten. Abschließend werden Perspektiven zur Erschliessung weiterer Konzertprogrammsammlungen diskutiert.